Dezember 31

Verrückte Einzelteile wieder an ihren Platz stellen

Es ist der letzte Tag des Jahres 2022 und er steht irgendwie stellvertretend für dieses verrückte Jahr. Verrückt im besten Sinne, denn es ist läuft in einer so ganz anderen Spur als alle zuvor. Natürlich anders als 2020 und 2021 – zum Glück, aber weiterhin weit von der Vor-Coronazeiten entfernt…

Silvester spezial

Der heutige Vormittag ist das perfekte Abbild für das Jahr. Erst wenige Wochen sind die eiskalten Tage her, da stehe ich mit meiner Winterjacke bei 17 Grad Außentemperatur vor dem Haus und fühle mich wie an Halloween, als ich spätabends bei der Gartenparty mit den Nachbarn meine dicke Jacke wieder auszog, weil mir so warm war. Auf dem Wochenmarkt angekommen, entscheiden wir uns für die Tiefgarage, denn an der Straße scheinen gerade keine Parkplätze frei. Ein schwerwiegender Fehler, wie sich hinter der Schranke herausstellen sollte, denn das Fenster Fahrerfenster ließ sich nach der Entgegennahme der Parkkarte nicht mehr schließen. Dem Fensterheber schien jegliches Leben entfleucht zu sein. Gut, dass nicht viel los war und wer klaut schon einen Lieferwagen mit Beule in der Tür? Ok, vielleicht funktioniert das Fenster, wenn wir weiterfahren… Es folgt ein stürmischer Wochenmarktbesuch. Stürmisch bezieht sich ausschließlich auf das Wetter, denn Marktbesucher sind heute rar. „Völlig normal an Silvester“, meint Bauer Wilhelm, „die Leute brauchen nix.“ Stimmt, an Silvester braucht man offensichtlich nur Böller und Alkohol – beides ist auf dem Markt nicht zu haben.

Die Hoffnung stirbt zuletzt, denken wir als das Auto startet und die Fensterscheibe stur unten bleibt. Aber es ist noch nicht einmal zwölf Uhr, da könnten wir doch beim Autohändler vorbeifahren, meint mein Mann. Ja, sage ich, vor Corona wäre das auch von Erfolg gekrönt gewesen – aber doch nicht 2022! Denn tatsächlich waren die Lichter im Autohaus heute gar nicht an und keine Tür ließ auch nur einen Hauch Frischluft herein.

„Aber hej, positiv denken“, sage ich, „stell dir vor, es wäre so kalt wie neulich und das Fenster wäre die ganze Zeit auf!“ Wir müssen lachen, kommen aber überein, dass zwei Dinge heute praktischer gewesen wären: Erstens, es wäre ein oberirdischer Platz freigewesen – ergo, es hätte keinen Grund gegeben, die Fensterscheibe zu bewegen. Oder zweitens, die Technik in der Autotür beschließt an einem normalen Werktag den Dienst einzustellen.

Ach, ich liebe diese Was-wäre-anders-gekommen-wenn-Überlegungen. Tipp an mich selbst: Rechtzeitig wieder aus der Gedankenspirale aussteigen, sonst wird es deprimierend.

„Das war schlimmer als Corona!“

Deprimierende Momente gab es in diesem Jahr genug. Allerdings bin ich extrem dankbar dafür, dass ich meine Selbstbestimmung weitestgehend zurückbekommen habe und damit auch meinen Optimismus. Man kann sich vor Corona nicht verstecken oder es mit widersinnigen Vorschriften eindämmen. Endlich scheint das auch Deutschland, das Land der Paragrafen und Verbote, einzusehen. Noch vor einem Jahr hoffte ich auf das Licht am Ende des Pandemietunnels (Rückblick2021). Das Licht wurde im Laufe des Jahres nur sehr langsam heller, aber nun wird endgültig über das Ende der Pandemie diskutiert. Immerhin: Man bleibt inzwischen bei jeder Erkältungserscheinung zu Hause oder entschuldigt sich für jedes Hüsteln – während man sich noch bis Anfang 2020 ins Büro schleppte, solange man aufrecht gehen konnte. Vor einer Coronaerkrankung hat eigentlich niemand mehr in meinem Bekanntenkreis Angst, denn die meisten waren in der Regel mehrfach daran erkrankt. Aktuell spricht man eher über seine Grippe oder Erkältung. „Das war schlimmer als Corona!“, habe ich jetzt mehrfach gehört. Wie schnell sich die Zeiten doch ändern…

Schmerzhaft lernen, dass es keine Gewissheiten gibt

Was wir als Gesellschaft in diesem Jahr schmerzhaft lernen mussten, ist, dass es keine Gewissheiten mehr gibt. Dinge treten ein, obwohl viel zu viele Argumente dagegensprechen und wir doch global viel weiter im Denken und der inneren Einstellung zu sein schienen. Ein Krieg in Europa? Unmöglich! Wozu auch? Trotzdem wird erbittert in der Ukraine gekämpft. Eine humanitäre Katastrophe, völlig sinnlos und niemand kann absehen, wie es weitergeht. Was bedeuten die Erlebnisse und Trauma für die ukrainischen Kinder und Jugendlichen? Es wird irgendwann in ihrer Hand liegen, welches Land die Ukraine nach dem Krieg sein kann. Ich hoffe, schon bald…

Wir haben Corona nicht einmal überwunden, da schwappen die Auswirkungen dieses sinnlosen Angriffskriegs von Putin in alle Länder der Welt. Gas wird knapp, Getreidelieferungen bleiben aus, Sonnenblumöl verschwindet aus unseren Regalen, Schiffe in Rotterdam können nicht entladen werden, weil die ukrainischen Hafenbeschäftigten in ihr Land zurückkehren, um es zu verteidigen. Die Liste der Beispiele ist lang und verrückt. Eine neue Flüchtlingswelle erreicht Deutschland, wieder ist die Hilfsbereitschaft riesig und wieder stehen wir als Land vor ähnlichen Herausforderungen wie 2016. Wieder rücken Länder bei Wahlen weiter nach rechts, selbst skandinavische.

Es knarzt und quietscht, es gibt Streit aber auch Erfolge

Und was passiert bei uns? Trotz aller Unkenrufe scheint unsere Regierung stabil zu arbeiten. Waffenlieferungen, finanzielle Entlastungen, Gasspeicherlöcher füllen – angesichts der unfassbaren und unvorhergesehenen Herausforderungen scheint sie zu funktionieren. Es knarzt und quietscht, es gibt Streit aber auch Erfolge. Das 9-Euro-Ticket! Ich war überrascht, dass es wirklich kam, sehr erfolgreich ging und voraussichtlich wiederkommt – wenn auch modifiziert.

Was lernen wir aus diesem Jahr? Wir haben zwar die Endlosschleife aus 2020 und 2021 verlassen. Schwindlig ist uns vielen Bereichen aber noch immer. Wir müssen dringend flexibler werden, nicht nur in der Politik sondern auch in der Gesellschaft. Die Bildungslücke ist in diesem Jahr so deutlich wie noch nie hervorgetreten. Wir verlieren Teile der nachwachsenden Generationen, wenn wir uns nicht endlich ernsthaft kümmern. Die Bildungsexperten haben sich den Mund fusslig geredet, passiert ist nur wenig. Die Digitalisierung könnte so vieles so viel einfacher machen, passiert ist nur wenig. Der Arbeitsmarkt schreit in allen Branchen nach Beschäftigten, passiert ist nur wenig. Sowohl Klimaschutz als auch Bildung sind die ersten Bereiche, die Federn lassen müssen, sobald am Horizont Probleme auftauchen. Die „letzte Generation“ hat darauf ihre eigene Lösung gefunden. Das ist verständlich und erschreckend zugleich.

Wir haben die Chance, Dinge wieder gerade zu rücken

Verrücktes Jahr, verrückte Ereignisse, verrückte Gesellschaft. Ob wir jemals wieder eine Art Gleichgewicht zurückfinden? Ich kann es mir nach drei Coronajahren und ihren Auswirkungen kaum noch vorstellen. „Wir werden uns viel verzeihen müssen“, sagte Jens Spahn in der Hochzeit der Pandemie. Vermutlich der einzige Satz, der mir von ihm in Erinnerung geblieben ist. Aber es stimmt: Wir müssen die verrückten gesellschaftlichen Einzelteile wieder an ihren Platz rücken. Viele waren schon vorher nicht am richtigen. Aber genau deshalb haben wir jetzt die Chance, Dinge wieder gerade zu rücken.


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Corona, Familie, Generationengerechtigkeit, gesellschaft, Kinder, Krieg, Pandemie, Politik, Silvester, ukraine


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